UNSER MOTTO : Alman Türk Dostluğu - Deutsch Türkische Freundschaft 

BERICHT von der Fachtagung für Multiplikatoren 
vom 9.-22. 10.98 in Mersin/Türkei

An der Reise für Multiplikator/inn/en haben teilgenommen: Solmaz Bas Ehrenamtliche Mitarbeiterin im Haus der Jugend Kiel-Ellerbek Ulli Krämer Haus der Jugend Kiel-Ellerbek
Thomas Lienau-Becker Pastor der Michaelisgemeinde Kiel-Hassee
Elfriede Mause Ehrenamtliche Mitarbeiterin der St. Markus-Kirchengemeinde Kiel-Gaarden
Lisa Schreieder Sozialpädagogin, Jugendzentrum Kiel-Welsee Diakon,
Lars Sörensen Jugendwart der St. Markus-Kirchengemeinde Kiel- Gaarden
Sahabettin Atli PTAV (Progressiver Türkischer Arbeitnehmer Kiel e. V.

Die Gruppe wurde begleitet von Sahabettin Atli (Dipl. Päd.), als Organisator und Dolmetscher.

Eine chronologische Zusammenstellung des Reiseverlaufs und des Programms liegt gesondert vor. Die Fachtagung erfolgte gemeinsam mit der Reise der Jugendbegegnung ,,Grenzen überschreiten 98". Durch Begleitung und Beobachtung der Jugendbegegnung sowie ein eigenes Programm sollten die Möglichkeiten für die Weiterentwicklung deutsch-türkischer Jugendbegegnungen erkundet werden. So besteht der folgende Bericht aus der Auswertung der Jugendbegegnung (Teil 1), einigen Überlegungen zu den Rahmenbedingungen für deutsch-türkische Jugendbegegnungen (Teil 2) sowie Überlegungen zu ihrer Umsetzung und zur Initiierung neuer Projekte (Teil 3).

1. Auswertung der jugendbegegnungsreise „Grenzen überschreiten 98"


a) Vorbereitung und Gruppenstruktur

Nach dem Ausscheiden der Christlichen Pfadfinder aus dem Trägerkreis wurde für die diesjährige Jugendbegegnungsreise eine geringere Teilnehmer/innenzahl von zwanzig Jugendlichen veranschlagt. Ausgehend von der Erfahrungen der vergangenen Jahre wurde dabei ganz auf kurzfristige Anmeldungen vertraut. Doch es konnten nur 14 Jugendliche zur Teilnahme gewonnen werden. Einige Interessierte wurden von den überdurchschnittlich angestiegenen Teilnahmekosten vom Mitfahren abgehalten. Andere, die zum Teil schon in den vergangenen Jahren mitgefahren waren, sprangen trotz anfänglichen Interesses wieder ab, aus verschiedenen Gründen. Offensichtlich hat - gerade in den Einrichtungen, die dieses Projekt bisher getragen haben - die Motivation für eine solche Reise deutlich nachgelassen Dem muß bei der Frage nach der Weiterentwicklung derartiger Jugendbegegnungen Rechnung getragen werden.

b) Lernerfolge

Konzipiert als Maßnahme zur Gewaltprävention soll das Projekt ,,Grenzen überschreiten" Jugendlichen aus Deutschland die Möglichkeit bieten, durch eigene Erfahrungen ein anderes, differenzierteres Bild der Türkei zu bekommen. So sollen sie lernen, sich Zuhause in multinationalen Zusammenhängen besser zurechtzufinden, was eine direkte Vorbeugung gegen klischeebestimmtes und zur Gewalt führendes Verhalten ist.

Erstaunlich schnell kamen auch diesmal wieder deutsche und türkische Jugendliche miteinander in Kontakt; wie von allein brachten gemeinsame Unternehmungen Kontakte zustande. Sprachschwierigkeiten spielten dabei eine untergeordnete Rolle; sei es, daß die türkischen Jugendlichen aus Deutschland übersetzten, oder daß man sich auf Englisch verständigte. Ausgesprochen aufmerksam wurden viele Unterschiede zum Leben in Deutschland wahrgenommen, ob im öffentlichen Leben (Autoverkehr, Infrastruktur etc.) 0 er im Umgang der Menschen miteinander (Gastfreundschaft, größere Offenheit und Direktheit im Umgang miteinander).

Bei der Auswertung verschiedener Feedbacks und Befragungen der Teilnehmer/innen zeigte sich, daß die Lerneffekte der Reise sich nach Alter und Bildungshorizont stark unterschieden Für die Jugendlichen bis 15 Jahre standen persönliche Kontakte im Vordergrund. Die älteren Teilnehmer/innen hingegen haben sich tiefer mit ihren Eindrücken beschäftigt: den Lebensbedingungen in der Türkei, der Situation Jugendlicher, den Zeugnissen der Geschichte. Außerdem haben die Älteren auch die Prozesse innerhalb der Gruppe genauer wahrgenommen.

Ein Fragebogen zu den Nachwirkungen der Reiseeindrücke soll beim Nach-treffen Ende November ausgefüllt werden. Damit soll ein erster Eindruck über mögliche Einstellungsänderungen gewonnen werden. Eine Einschätzung der pädagogischen,, Langzeitwirkung" der Reise wäre vor dieser Erhebung noch hypothetisch.

c) Defizite und Folgerung

Dennoch erschien uns die Reise in mehrerer Hinsicht unbefriedigend. Durch die unerwartet schwierige Teilnehmer/innen-Werbung entsprach die Größe und Zusammensetzung der Gruppe nicht den Erwartungen. Zudem wurde die Reise mit den Jugendlichen inhaltlich kaum vorbereitet. So konnten weder Fragestellungen und Erwartungen im Vorfeld geklärt werden, noch konnte die Gruppe einander in den Blick nehmen. Das aber wäre wichtig gewesen (und ja auch vom Konzept vorgesehen), denn die Gruppe selbst ist ja ein wesentlicher Ort sozialen Lernens. Außerdem machte die Gruppenzusammensetzung es schwer, das Programm entsprechend der Interessen und Wahmehmungsebenen der Teilnehmer/innen zu gestalten. Was die einen interessierte, langweilte die anderen, und man fand keine Clique, in der man abweichenden Interessen nachgehen konnte.

Für künftige Jugendbegegnungen muß festgehalten werden, daß eine klarere Fokussierung auf bestimmte Zielgruppen unbedingt erforderlich ist. Die Vorbereitung - einschließlich der Teilnehmer/innen-Werbung - muß langfristiger geplant und durchgeführt werden. Nur so ist es möglich, vor, während und nach der Reise deutlicher die pädagogischen Zielsetzungen im Blick zu behalten und immer wieder zur Anwendung zu bringen. Denn eine Reise in die Türkei ist ein teures und aufwendiges Unternehmen, das sich nur durch weit überdurchschnittliche Erfolge im interkulturellen Lernen rechtfertigen läßt.


2. Wichtige Faktoren für deutsch-türkische Jugendbegegnungen

a) Das Interesse auf türkischer Seite

In mehrerer Hinsicht ist uns gegenüber ein starkes Interesse an einer Weiterführung und am Ausbau türkisch-deutscher jugendbegegnungan zum Ausdruck gebracht worden.

aa) Das Interesse der Jugendlichen

Immer wieder sind während unseres Aufenthaltes Jugendliche aus Mersin - Pfadfinder, die das Projekt aus ihrer Gruppe kennen - auf eigene Faust ins 60 km entfernte Akkum gefahren, um mit uns zusammenzukommen. Der Kontakt zu Jugendlichen aus einem anderen Land, das in vielem als fortschrittlicher und liberaler gilt, ist für sie sehr attraktiv. Das Bedürfnis, in dieser Hinsicht den eigenen Horizont zu erweitern, ist enorm. Besonders deutlich wurde das auch beim Besuch im Gymnasium ,,Toros Kolegi" in Mersin: Viele der Schüler/innen dort mochten uns gar nicht wieder gehen lassen. Offensichtlich gibt es - anders als bei uns - in der Türkei für Jugendliche nicht viele Möglichkeiten zu solchen Kontakten, und sei es auch nur, um die teilweise sehr guten - Englischkenntnisse zu praktizieren.

Etwas anders stellt sich das Interesse junger Erwachsener - also von Student/innlen - dar:
Ihnen ist stark am Austausch über weltanschauliche Fragen gelegen. Wie die Türkei im Westen wahrgenommen wird, welche Wertesysteme den verschiedenen Gesellschaften zugrundeliegen - hierüber scheint großer Gesprächsbedarf zu bestehen. Auch für Student/innen scheint es wohl nicht viele Möglichkeiten zu geben, authentische Stellungnahmen aus anderen Ländern zu bekommen und direkte Gespräche zu führen.

ab) Das Interesse des Staates

Unerwartet deutlich hat Faruk Ercan, der Direktor der Provinz Içel für Jugend und Sport das Interesse der türkischen Republik an internationalen Jugendbegegnungen ausgedrückt. Über die Türkei bestünden in den westlichen Ländern oft falsche Vorstellungen, was mit der - wie er es nannte - instabilen politischen Situation einiger Nachbarländer der Türkei zusammenhänge. So sei die Türkei daran interessiert, sich als demokratischer, laizistischer und westlich orientierter Staat zu zeigen.

Ein solches Votum ist wichtig, denn der Staat spielt in der Türkei eine wesentlich größere Rolle als in Deutschland. Es gibt hier praktisch keine vom Staat unabhängigen Organisationen, die den freien Trägern sozialer Arbeit in Deutschland entsprechen. Eine der wenigen Ausnahmen ist der freie Pfadfinderverband, der auch die Jugendbegegnung ,,Grenzen überschreiten" auf türkischer Seite trägt. Folglich ist ohne Unterstützung staatlicher Stellen der Türkei ein Ausbau von Jugendbegegnungsprojekten kaum durchführbar.

Freilich markieren die Ausführungen von Faruk Ercan auch die Grenzen solcher Begegnungen:
Eine kritische Infragestellung der Grundlagen des Staates ist nicht erwünscht. Dies ist ambivalent: Auf der einen Seite sollen so die Themen ausgegrenzt werden, die für ein negatives Bild der Türkei wesentlich sind (Kurdenproblem , Menschenrechtssituation). Andererseits verdient die (weitgehend) demokratische und (zumindest in vielen Bereichen) pluralistische Struktur der an den Prinzipien Atatürks orientierten Republik auch tatsächlich eine stärkere Würdigung in der westlichen Öffentlichkeit.

ac) Das Interesse einzelner Organisationen

In ihrem Ringen um ein eigenes Profil sind sicher auch viele Einrichtungen und Institutionen am Ausbau von Kontakten nach Deutschland interessiert. Dies wurde für uns mehreren Orten deutlich:
- Für den unabhängige Pfadfinderverband sind internationale Kontakte und die Einbindung in die internationalen Pfadfinderorganisationen wesentlich, um sich als unabhängiger Verband zu behaupten.
- Ob es die privilegierte Privatschule ,,Toros Kolegi" in Mersin ist oder eine kleine allgemeinbildende Schule in Silifke: Viele Schulen sind an Kontakten oder Partnerschaften zu Schulen in Deutschland interessiert. Die Schulleitungen begrüßen solche Kontakte als Erweiterung des Horizonts ihrer Schüler/innen, auch wenn die politischen Vorgaben des Staates in der Gestaltung solcher Kontakte deutlich zu spüren sein dürften.
- Für eine kleine Einrichtung wie die Behindertenschule IZEM in Mersin haben Kontakte ins Ausland noch eine andere Bedeutung: Die Behindertenpädagogik ist in der Türkei wesentlich weniger entwickelt als in Deutschland. Hier können Kontakte unter Pädagog/inn/en wichtige Anregungen und Unterstützung der Arbeit bringen.

b) Wichtige Faktoren für das interkulturelle Lernen

ba) Internationale Begegnung als interkulturelles Lernen?

Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Dynamik Jugendreisen ermöglichen, gruppenintern, individuell und in der Begegnung mit dem Ort, den man besucht. Besonders eindrücklich ist, wie bei den Jugendbegegnungen in der Türkei deutsch und türkische Jugendliche zusammenkommen, ja für eine gewisse Zeit sogar zu einer Gruppe werden. Es ist aber schwer, zu überprüfen, ob diese Begegnungen tatsächlich auch Zuhause in Deutschland das Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken positiv beeinflussen. Auch wenn vieles dafür spricht, daß dies so ist, so ist doch die Umsetzung der Eindrücke einer solchen Reise noch einmal ein Lern- oder Anpassungsschritt, der beobachtet oder begleitet werden sollte.

Insbesondere legt die unbefriedigende Resonanz der Teilnehmer/innen-Werbung diese Frage nahe. Ist das mangelnde Interesse ehemaliger Mitreisender (und ihre mangelnde ,,Mund-zuMund-Propaganda") auch ein Zeichen dafür, daß ihnen eine deutsch-türkische Begegnung nicht mehr so wichtig ist? Oder haben frühere Reisen bestehende Vorurteile langfristig erhärtet? Die allgemein zu beobachtende Tendenz, daß sich deutsche und türkische Jugendliche derzeit eher auseinanderentwickeln (siehe unten), scheint auch am Teilnehmer/innen-kreis von ,,Grenzen überwinden" nicht vorbeigegangen zu sein. Das sollte Anlaß sein, die ,,Langzeitwirkung" des Projekts gründlicher zu erheben.


bb) Die Rolle der Mittelspersonen

Auf dieser Reise hatten wir Gelegenheit, mehrere Personen in der Rolle des Übersetzers bzw. Vermittlers zu erleben:

- Sahabettin Atli Pädagoge und Mitbegründer des Projekt ,,Grenzen überschreiten" aus Kiel, Mitglied und Vertreter des Progressiven Türkischen Arbeitnehmer-Vereins, dessen Bruder Leiter der freien Pfadfinder in der Provinz Içel ist und dessen Familie uns dort betreut hat, Hüseyin..., Student und Mitinitiator der Reise von Multiplikator/inn/en aus Essen, aus der arabisch geprägten Region um Antakya stammend, in Deutschland am Aufbau demokratischer Interessenvertretungen ausländischer Mitbürger/innen engagiert, und
-Solmaz Bas, ehrenamtliche Mitarbeiterin im Haus der Jugend in Kiel-Ellerbek und in deutsch-türkische Frauengruppen, liberale alevitin und alleinerziehende Mutter.

Die Aneinanderreihung der genannten ,,Merkmale" mag willkürlich erscheinen, sie soll aber einen Hinweis geben auf die Unterschiedlichkeit der Personen. Daß alle drei als Übersetzer und damit auch als Mittler - tätig waren, machte es möglich, zu erleben, wie unterschiedlich die jeweils vermittelnde Person die interkulturelle Kommunikation strukturieren kann. Wie stark sie Äußerungen der einen Seite für die andere deuten und interpretieren - oder wie:< stark sie Gegensätze auch aufeinanderprallen lassen -, das ist sehr wesentlich für den gesamten Begegnungsprozeß. So exteriorisiert sich immer wieder, wie diese Personen in ihrem eigenen Leben die beiden Kulturen, in denen sie leben, verbinden. So wird deutlich, wie groß die Last ist, die diese Mittelspersonen tragen, aber auch, wie stark sie ganz persönlich gefordert sind.

bc) Mißverständnisse als Schlüssel zum Erkennen und Bewältigen von Differenzen

Mit Konflikten und Mißverständnissen umzugehen ist nicht leicht, zumal wenn sie zwischen Gastgebern und Gästen auftreten, zwischen Türken und Deutschen, zwischen denen, die sich doch eigentlich begegnen und gut verstehen sollten. Oft liegen diesen Differenzen aber unterschiedliche Wertvorstellungen und Erwartungen zugrunde, die nicht immer leicht zu erkennen sind. Dennoch kann gerade das Erkennen solcher Unterschiedlichkeiten entscheidend zum interkulturellen Lernen beitragen, ähnlich wie die Deutung von Mißverständnissen in der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Freilich setzt eine solche Arbeit an den Gründen von Mißverständnissen eine gewisse Fähigkeit zur Relativierung eigener Positionen voraus, bei den ,,Mittelspersonen wie bei den Betroffenen selbst.

Unsere Reise hat gezeigt wie schwierig , aber auch wie ertragreich solche Lernprozesse sind.
Dabei ist auch deutlich geworden, daß dies in der Begegnung mit Türk/inn/en besonders schwer sein kann; überlieferte Strukturen oder Werte zu hinterfragen kann hier problematisch sein. Außerdem muß das Arbeiten am Verstehen solcher Einstellungsdifferenzen der jeweiligen Entwicklungsstufe von Jugendlichen Rechnung tragen (- ein weiteres wichtiges Argument für die Notwendigkeit einer gründlichen Vorbereitung solcher Begegnungsreisen!).

3. Perspektiven für die Weiterentwicklung Deutsch-Türkischer
Jugendbegegnungen
Zur Zeit sind in Deutschland weniger fremdenfeindliche Gewalttaten unter Jugendlichen zu beobachten als noch vor einigen Jahren - zumindest weniger spektakuläre. Sicher ist dies auch ein Erfolg vieler gewaltvorbeugender Projekte und Aktionen. Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu schließen, die Integration von Jugendlichen mit ausländischer Herkunft sei fortgeschritten. Es gibt viele Anzeichen, die eher auf das Gegenteil hindeuten. In vielen Jugendtreffs und Einrichtungen haben sich deutsche und türkische Jugendliche voneinander getrennt; immer mehr solcher Treffs werden nur noch von türkischen - oder eben von deutschen - Jugendlichen besucht. Dazu kommt eine rapide Ausbreitung fündamentalistisch-islamischer Werte und Einstellungen unter türkischen Jugendlichen, und in ihren Familien. So entmischen und trennen sich die Lebenswelten in Deutschland immer mehr.

Eine auf Integration zielende pädagogische Arbeit sieht sich also vor einer veränderten - oder zumindest modifizierten - Aufgabe: Immer stärker werden Fremdheit und Desinteresse zur Herausforderung, und zwar auf beiden Seiten, bei deutschen und türkischstammigen Jugendlichen gleichermaßen. Damit stellt sich für die interkulturelle Pädagogik aber auch so etwas wie eine ,,Existensfrage": Wer will eigentlich Integration? Wollen die hier lebenden Türk/inn/en eigentlich eine stärkere Integration in die deutsche Gesellschaft, und will die deutsche Gesellschaft diese Integration eigentlich selbst? Nicht zuletzt die überall mit Sparzwängen begründeten Kürzungen der Mittel für die Jugend- und Sozialarbeit verschärfen diese Frage.

Zwei Argumente aber machen interkulturell ausgerichtete pädagogische Arbeit zwingend. Zum einen ist es die rasant ansteigende Jugendkriminalität, die auf einen dramatischen Verlust an mitmenschlicher Wahrnehmung weist. Die Fähigkeit, im anderen einen empfindungsfahigen Mitmenschen zu sehen, nimmt ab - wozu viele Faktoren der vergangenen Zeit beigetragen haben. Hier nicht gegenzusteuern, und zwar auch darin, gerade verschiedenartige Jugendliche zusammenzuführen, wäre fatal. Außerdem ist nach dem Wechsel in der Bundesregierung eine neue Ausländer/innen-Politik in Aussicht gestellt. Wenn das Staatsbürgerschaftsrecht künftig die Einbürgerung von hier lebenden Ausländer/inne/n erleichtert, ist das ein wichtiges - und überfälliges - Signal, daß Integration tatsächlich auch politisch erwünscht ist.

Ziel künftiger deutsch-türkischer Begegnungsprojekte muß also sein, verschiedene Lebenswelten einander vertrauter zu machen, präzisere Bilder des/der anderen zu vermitteln. Dafür überhaupt erstemal Interesse zu wecken wird eine größere Aufgabe werden. Und es ist verstärkt darauf zu achten, wo Klischees, die der Abgrenzung zugrunde liegen , verstärkt werden, und wie sie abgebaut oder überwunden werden können.

In der Weiterarbeit nach der Reise soll dies im Blick auf verschiedene Zielgruppen konkretisiert und umgesetzt werden..

a) Jugendliche aus der Offenen Jugendarbeit

Dies war ursprünglich die Zielgruppe des Projekts ,,Grenzen überschreiten". Der städtische Jugendtreff in Kiel-Ellerbek sowie die Jugendarbeit der St. -Markus-Kirchengemeinde in Gaarden haben als Träger des Projekts diese Jugendlichen angesprochen, in diesem Jahr eben mit weniger Erfolg. Um künftig diese Zielgruppe anzusprechen und den erwünschten Bezug zu den Stadtteilen, in denen die Jugendlichen leben, zu erreichen, ist eine Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen notwendig, die diese Jugendlichen ansprechen. Nur in Verbund mit Einrichtungen anderer Träger (z.B. der Arbeiterwohlfahrt, wie Volksbad oder Räucherei) kann solche Begegnungsarbeit künftig konzipiert werden.

b) Jugendliche aus nicht-integrativer Jugendarbeit

Hiermit sind insbesondere diejenigen Jugendlichen gemeint, die Einrichtungen besuchen, in denen sie nicht auf anders-nationale Jugendliche treffen. Dies kann die kirchliche Jugendarbeit genauso sein wie die anderer Träger, die einfach aufgrund ihrer Besucher/innen-Struktur nicht gemischtnational sind. Solche Jugendlichen haben oft keine Probleme mit Ausländer/inne/n, weil sie einfach keinen begegnen, und darüber auch ganz froh sind. Reisen in die Türkei könnten solche Jugendlichen zu einem anderen Verhältnis auch zu Türk/inn/en in Deutschland führen, wenn sie denn entsprechend pädagogisch vor- und nachbereitet werden. Eine wichtige Aufgabe liegt hier darin, das Interesse an Begegnungen mit anderen Nationen erst einmal zu wecken.

c) Partnerschaften von Schulen

In vielerlei Hinsicht haben Kontakte und Austauschprogramme von Schulen schon zum besseren Verständnis anderer Länder geführt. Auf türkischer Seite ist das Interesse an solchem Austausch folglich auch sehr groß. Im Blick auf Schulen in Deutschland müßte um ein ähnliches Interesse erst einmal geworben werden. Denn die traditionelle Verankerung solcher Austauschprogramm im Fremdsprachenunterricht würde hier kaum greifen; Türkischunterricht an deutschen Schulen ist noch sehr selten. Eher wären die Fächer Religion, Erdkunde oder Gemeinschaftskunde/Politik für die Vor- und Nachbereitung solcher Austauschprogramme geeignet. Dennoch erscheint uns der Austausch von Schulen als gute Möglichkeit, die Lebenswelt des anderen Landes kennenzulernen. Gut wäre hier, daß sich die beteiligten Institutionen entsprechen, so daß Schüler/innen einen guten Zugang zu dem hätten, was sie im anderen Land wahrnehmen. Darum soll die Möglichkeit für Kontakte und Austauschprogramme zwischen Schulen an die zuständigen Institutionen in Deutschland herangetragen werden.

d) Weitere Multiplikator/inn/en

Für die Umsetzung aller dieser Ideen ist es notwendig, weitere Personen zu finden, die Begegnungs- oder Austauschprogramme initiieren wollen. Eine weitere Reise für Multiplikator/inn/en erscheint daher sinnvoll. Denn für das Entwickeln eigener Aktivitäten ist eine persönliche Begegnung mit einem möglichen Zielort in den meisten Fällen eine unabdingbare Voraussetzung. Ob dies im Rahmen der Volkshochschule als Bildungsurlaub angeboten werden kann, wird zu klären sein. Als Zielgruppen wären viele denkbar: Jugendarbeiter/inne/n, kirchliche Mitarbeiter/innen, Erzieher/innen etc. . Für Lehrer/innen müßte ggf. ein gesondertes Angebot während der Schulferien gemacht werden.

Thomas Lienau-Becker, Pastor Schleswiger Str. 55, 24113 Kiel